Der Sound der Wildnis

Ein Pilotprojekt in der Polesie erfasst einen Teil der Artenvielfalt mithilfe von Tonaufzeichnungen. Ein vielversprechendes neues Instrument zum Monitoring der Biodiversität.

24.07.2023, Elleni Vendras

Wer Biodiversitätserhebungen in der Polesie durchführt, darf nicht zimperlich sein. Die Polesie ist ein Wildnisgebiet der Superlative: Halb so groß wie Deutschland erstreckt sich die überwiegend moorige Landschaft von Polen über die Ukraine und Belarus bis nach Russland. Naturbelassene Flüsse, die im Frühjahr weit über ihre Ufer treten, schlängeln sich durch ein Mosaik aus Auwäldern, Mooren, Altwässern, Auenwiesen und Sümpfen.

Solche großen zusammenhängenden Lebensräume sind in anderen Teilen Europas weitgehend der Landwirtschaft gewichen. Und diese nassen und weichen Lebensräume sind schwer zu durchqueren. Während unsere Kolleginnen und Kollegen langsam durchs Moor waten, um seltene Greifvögel wie den Schelladler zu zählen oder Kamerafallen aufzustellen, um Wölfe und Luchse zu studieren, sind Schwärme von Stechmücken und anderen Insekten ihre treuen Begleiter.

Wir haben in der Polesie auf ein neues aussichtsreiches Instrument zur Erfassung der Biodiversität zurückgegriffen: Geräusche. Fledermäuse und andere Arten erfassen wir nun mithilfe von Tonaufnahmen.

Elleni Vendras, Projektleiterin Polesie

Ein Hauptziel unserer Arbeit in der Polesie ist es, herauszufinden, wo schützenswerte Gebiete sind. Ein besseres Verständnis davon, wo Lücken im Schutz sind und wo prioritäre Gebiete liegen, wird uns dabei helfen, Anträge zur Erweiterung von Schutzgebieten und zur Ausweisung neuer Schutzgebiete zu unterstützen und zu begründen. Eines der Hauptkriterien dabei ist die Artenvielfalt und das Vorkommen streng geschützter Arten.

Bestandserhebungen sind aber meist langwierige Prozesse und vor allem schwer auffindbare und nachtaktive Tiere wie Insekten oder Fledermäuse werden oft übersehen, obwohl sie in der Regel einen hohen Schutzstatus haben. Kleinere Tiere wie Fledermäuse, Nagetiere und Insekten mit konventionellen Methoden zu untersuchen, erfordert viel Zeit, Kraft, Geduld und finanzielle Mittel. Deshalb haben wir in der Polesie auf ein neues aussichtsreiches Instrument zur Erfassung der Biodiversität zurückgegriffen: Geräusche. Fledermäuse und andere Arten erfassen wir nun mithilfe von Tonaufnahmen.

An insgesamt 500 Standorten lauschten diese Aufnahmegeräte je vier Nächte lang.

Zwei Jahre lang gelauscht

In der bisher größten systematischen Untersuchung der Artenvielfalt in der ukrainischen und weißrussischen Polesie haben wir zwei Jahre lang ein sogenanntes passives akustisches Monitoring durchgeführt. Wir haben es eingesetzt, um Fledermäuse, Vögel, Kleinsäuger, Buschgrillen und einige Großsäuger auf einer Fläche von etwa 50.000 Quadratkilometern, vergleichbar mit der Größe der Slowakei, zu erfassen. Auf dieser Fläche wurden die Aufnahmegeräte an 500 Standorten für jeweils vier Nächte aufgestellt. Auf diese Weise wurden Tausende von Stunden an Tierstimmen aufgezeichnet – bei Tag und Nacht, in dichten Wäldern und ausgedehnten Mooren und in jeder Richtung in einem Umkreis von etwa hundert Metern um den Rekorder.

Eine Breitflügelfledermaus (Eptesicus serotinus) in Hessen.

Shazam für Tierstimmen

Das derzeitige Ergebnis sind rund drei Millionen Aufnahmen mit etwa 500.000 Tierlauten. Diese Tierlaute aus anderen Umweltgeräuschen herauszufiltern und einzeln zu bestimmen, würde Jahre dauern. Deshalb haben unsere Projektpartner vom British Trust for Ornithology einen automatischen Rufklassifikator entwickelt. Ähnlich wie die Handy-App Shazam, die Musikstücke anhand eines Melodiefragments zuordnen kann, ist der neue Rufklassifikator in der Lage, Aufnahmen von Tierlauten einer Art zuzuweisen. Der Algorithmus analysiert das Spektrogramm, also das visuelle Klangbild der Aufnahme, nach bekannten Parametern, sucht nach typischen Mustern und gibt Auskunft darüber, zu welcher Art die aufgenommenen Laute gehören.

Auf diese Weise können wir inzwischen über 50 Arten von Fledermäusen, Vögeln, Buschgrillen und kleinen Säugetieren automatisch klassifizieren. Um auf der sicheren Seite zu sein, werden diese dann manuell überprüft und der Algorithmus gegebenenfalls verbessert. Auf diese Weise können wir viele Arten gleichzeitig erfassen, vom Bartkauz (Strix nebulosa) über die Zwergspitzmaus (Sorex minutus) bis hin zu Laubheuschrecken wie dem Grünen Heupferd (Tettigonia viridissima).

Eine Weißflügelseeschwalbe (Chlidonias leucopterus) am Pripyat Fluss in der belarusischen Polesie.

Diese Methode zur Erfassung und Überwachung der Arten ist nicht invasiv, da die Tiere im Vergleich zu herkömmlichen Methoden nicht gestört werden. Fledermäuse, Vögel und Insekten müssen nicht mit Netzen gefangen und anschließend von Hand untersucht und bestimmt werden. Darüber hinaus ist das akustische Monitoring kostengünstig, da es die gleichzeitige Erfassung verschiedener Tiergruppen ermöglicht und im Vergleich zu herkömmlichen Erfassungsmethoden in relativ kurzer Zeit große Datenmengen gesammelt werden können.

Die Hauptziele des akustischen Monitorings sind die systematische Kartierung der Biodiversität in der gesamten Polesie, die Identifizierung von Lebensräumen, die für die verschiedenen Arten besonders wichtig sind, die Ermittlung von prioritären Schutzgebieten und die Bewertung der Auswirkungen menschlicher Aktivitäten wie Entwässerung, Brände und Straßenbau auf die biologische Vielfalt. Die Artenlisten dienen auch als Grundlage für formelle Anträge auf Erweiterung von Schutzgebieten.

Die akustischen Bestandsaufnahmen werden im Rahmen des Projektes „Polesie – Wildnis ohne Grenzen“ in Zusammenarbeit mit dem British Trust for Ornithology durchgeführt. Dieses Projekt ist Teil des Endangered Landscapes Programme und wird von Arcadia finanziert.

Elleni Vendras koordiniert für unser Projekt in der Polesie die wissenschaftlichen Arbeiten, die als Grundlage für Schutzgebietserweiterungen dienen.

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