Im November 2022 unterstützte die ZGF zum dritten Mal einen Transport von Kulanen in die zentralkasachische Torgai-Steppe. Mit dabei war die Tiermedizinstudentin Anne Dohrmann, die bei eisigen Temperaturen viele Wochen in der entlegenen Rangerstation Alibi ausharrte, um die Neuankömmlinge zu beobachten.
Vier Kulane für Alibi
„Da! Sie kommen! Sie sind da!“ Ein winziger Fleck pulsierenden roten Lichts ist knapp über dem südlichen Horizont aufgetaucht. Klar hebt er sich ab von dem grau-violetten Steppendunst des späten Nachmittags.
Ein Ruck geht durch mich und offenbar auch durch die 25 Ranger, die den ganzen Tag auf diesen Moment gewartet haben. Aufgeregt zeigen sie in Richtung des immer stärker werdenden Lichts, starten die Autos und trommeln ihre Kollegen aus allen Winkeln der Rangerstation zusammen.
Bald hören wir das dumpfe Brummen des Helikopters, erst ganz leise, aber mit jedem Augenblick stärker. Nur wenige Minuten vergehen, bis der große Mi-171-Hubschrauber über unseren Köpfen schwebt und sich langsam auf das zitternde Steppengras sinken lässt. Sobald die Maschine schwer auf der Erde hockt, öffnet sich eine kleine Tür und heraus springt Albert Salemgareyev, der Koordinator des Kulan-Umsiedlungsprojekts unseres kasachischen Partners ACBK (Association for the Conservation of Biodiversity of Kazakhstan). Vor dem massiven Helikopter wirkt er winzig. Bald ist er umringt von weiteren winzigen, aber emsigen Gestalten. Während das Rumoren des Hubschraubers langsam verstummt, ertönen andere Geräusche: metallisches Rumsen, als schwere Frachttüren geöffnet werden, das arrhythmische Stottern eines in die Jahre gekommenen Traktors und über allem das Gewirr aus kasachischen und russischen Anweisungen.
Vier junge Kulane oder asiatische Wildesel sind gerade in „Alibi“ angekommen. So heißt das Wildeselauswilderungszentrum von ACBK in Zentralkasachstan. Es liegt mitten in dem riesigen Steppengebiet, das die ZGF gemeinsam mit nationalen und internationalen Partnern betreut und schützt. Im Jahr 1930 wurde hier der letzte heimische Kulan geschossen. Jetzt erlebt die bedrohte Art ein Comeback. Als Vertreterin der ZGF bin ich beim dritten Kulantransport dabei, den wir mit unseren Partnern durchführen.
Genau wie ich erleben die umgesiedelten Kulane zum ersten Mal echte Steppe. Die Wildesel kommen aus dem felsigen Nationalpark Altyn Emel im fernen Südosten Kasachstans, der die größte Kulanpopulation weltweit beherbergt. Aufgrund des dürftigen Straßennetzes ist ein Hubschrauber das einzige Transportmittel, das für die Reise dieser großen Tiere über 1.400 Kilometer infrage kommt.
Durch einen schmalen Spalt am oberen Rand einer Transportkiste erkenne ich im Halbdunkel das aufmerksame Spiel langer, schlanker Ohren bei dem Versuch, die geschäftigen Geräusche um sie herum zu verstehen. Man würde nicht vermuten, dass diese wilden Tiere bereits seit fast zehn Stunden unterwegs sind. Einige Unwägbarkeiten begleiteten ihre Reise und wir sind froh, sie jetzt hier sicher auf zentralkasachischem Boden zu haben.
Anders als bei den vorherigen Transporten bestand dieses Mal keine Möglichkeit, die Kulane vor dem Verladen einzeln zu untersuchen. Die üblichen Tierarzneimittel für die kurzfristige Immobilisierung großer Wildtiere sind in Kasachstan derzeit nicht zugelassen, was uns im Vorfeld ziemliches Kopfzerbrechen bereitete. Eine kasachische Tierärztin, die mit den nationalen Verfahren für Betäubungsmittel und dem Transport von Kulanen vertraut ist, versorgte unsere ausgewählten Wildesel schließlich mit einer milden Sedierung, um ihren Transportstress zu lindern. Die Prozedur verlief gut und zeigte uns, dass es möglich ist, die Kulane mit weniger starken Medikamenten zu transportieren. Doch ein direktes Handling der Tiere blieb trotzdem zu gefährlich.
In der Nacht nach der Ankunft der Kulane in Alibi breitet sich eine hartnäckige Schneefront über der Steppe aus, die den Hubschrauber samt Besatzung für über eine Woche am Boden festsetzt. Wir sind froh, dass wir gerade noch rechtzeitig die vier Kulane einfliegen konnten, müssen aber den geplanten zweiten Transport absagen, da keine verlässliche Verbesserung der Situation zu erwarten ist.
Dieses Risiko war uns vorher bewusst. Um uns in Zukunft davor zu schützen, begleiteten Albert Salemgareyev und Alexander Putilin von unserer Partnerorganisation ACBK Anfang Oktober einen staatlich geleiteten Transport von Kulanen auf dem Landweg, um zu sehen, ob und wie diese Methode funktioniert. Im Sommer 2023 soll das fehlende Stück im Straßennetz zwischen Altyn Emel und Alibi fertig sein und unsere Abhängigkeit vom Flugwetter beenden.
Der Aufbau einer stabilen Sozialgruppe ist bei Wildeseln grundsätzlich schwierig. Sympathien und Interaktionen lassen sich kaum vorhersagen. Um mehr über diese komplexen Vorgänge zu erfahren und sie zu dokumentieren, bleibe ich in der abgelegenen Rangerstation. Während mich die Schönheit der Steppe jeden Tag aufs Neue rührt, nimmt die Situation im Gehege eine schockierende Wendung: Nach wenigen Tagen greift der alte Hengst plötzlich zwei der neuen Kulane unbarmherzig an. Ein Verhalten, das von wilden Kulanen in dieser Intensität bisher nicht bekannt war, zudem dieser spezielle Hengst bisher mit anderen Tieren sehr friedlich war. Beide Tiere starben in der Folge an ihren Verletzungen.
Wiederansiedlungen von Wildtieren, insbesondere von großen Arten mit komplexen, hoch entwickelten Sozialstrukturen wie bei den Kulanen, bleiben trotz akribischer Planung nicht vollständig vorhersehbar. Nicht einmal ein geschultes und erfahrenes Team wie das unsere, aus nationalen und internationalen Expertinnen und Experten, ist gegen alle Risiken eines solchen Unterfangens gefeit. Einmal mehr werden wir daran erinnert, wie schwierig es in einem Ökosystem ist, zu reparieren und wiederherzustellen, was einmal verloren gegangen ist.
Für 2023 bleibt unser Ziel, weitere Kulane zu holen. Diesmal auf dem Landweg. Die Fliegerei ist für die Kulane aber noch nicht ganz vom Tisch: In den nächsten Jahren sollen auch Tiere aus europäischen Zoos nach Kasachstan gebracht werden, um Inzucht vorzubeugen.
Wir überlassen die sechs Kulane im Gehege den aufmerksamen Augen der Ranger und holpern über die gefrorenen Steppenpisten zurück nach Astana. Ich blicke aus dem Fenster auf die endlosen Ebenen, die still und wunderschön im Frost glitzern. „Eines Tages wird es hier wieder Kulane geben“, denke ich und lächle. Der Weg zu einer stabilen Kulanpopulation in Zentralkasachstan ist noch lang. In diesem Jahr sind wir ihn ein Stück weitergegangen, dank des Engagements unseres Teams, unserer kasachischen Partner und unserer Unterstützer in Deutschland und darüber hinaus.
Anne Dohrmann studiert Tiermedizin in Leipzig und arbeitet studienbegleitend als Assistentin im Wiederansiedlungsprojekt für die Kulane. Alle Aquarelle in diesem Artikel hat Anne während ihrer Zeit in der Feldstation gemalt.